Liebe Leser, hier und dort werden wir gefragt, was es denn genau auf sich hat mit dieser Bewegungswerkstatt. In den folgenden Wochen lassen wir Sie gerne an der Geschichte teilhaben.

«Bei genauem Hinschauen zeigt sich, dass jeder Mensch sein eigenes Gesundheitswesen ist.»
(Zitat: Stefan Knobel, Zeitschrift Lebensqualität)

bewegt.ch: Wie begann der Gedanke «Bewegungswerkstatt»?

Erich Weidmann: Ich muss gestehen, so einfach kann ich diese Frage nicht beantworten. Ich meine es bestanden verschiedene Gründe, die uns dazu gebracht haben, Bewegungswerkstätten zu eröffnen. Das eine war meine langjährige Erfahrung im Anleiten von Pflegefachpersonal. Dann die Kontakte zu vielen Menschen, die ihr Leben mit Einschränkungen gestalten. In diesen Begegnungen beobachtete ich, wie interessiert viele dieser Menschen an Erfahrungswissen sind. Mich begeisterte es wenn diese Begegnungen dazu führten, dass mehr Möglichkeiten und Varianten zur Gestaltung alltäglicher Aktivitäten entstehen konnten.

Frau H: Warum soll ich mich mit Varianten und Möglichkeiten auseinander setzten?

Erich Weidmann: Als Mensch baue ich mein alltägliches Leben mit vielen Automatismen und Mustern auf. Das ist sehr praktisch, denken sie einmal daran wie viele Abläufe unbewusst passieren. Stellen sie sich vor, wir müssten zum Beispiel beim Trinken, beim Aufstehen oder Anziehen jedes Mal nachdenken damit dies funktioniert. Es zeigt sich, dass solche automatischen Abläufe die Kraft haben auch dann noch zu bestimmen, wenn andere Bewegungsabläufe viel passender und schonender wären. Anders gesagt, Automatismen können unser Leben über die Zeit bereichern aber auch einschränken.

Frau J: Warum merke ich unpassende Bewegungsabläufe erst, wenn es schon schmerzt?

Erich Weidmann: Es ist nicht möglich Schmerzen zu merken, bevor man sie merkt! G. Bawetson (1) sagt: „Eine Information ist ein Unterschied, der ein Unterschied erzeugt“. In unserem Körper haben wir Systeme, die feinste Unterschiede bemerken und darauf reagieren. Bis wir diese wahrnehmen braucht es eine gewisse Reizintensität; sozusagen muss diese Intensität die Schwelle ins Bewusstsein übertreten. Viele Schmerzsyndrome entstehen durch Muster, in denen die Muskelspannung steigt. Diese kann mit der Zeit nicht mehr losgelassen werden. Die Muskeln vergessen sozusagen zu entspannen.(2) Die Auseinandersetzung mit der eigenen Bewegung, so zeigen viele Erfahrungen, helfen jedoch, diese Muster frühzeitiger zu erkennen.

  1. Dr. Gregory Baetson: „Unterschiede sind potentielle Informationen. Tatsächliche Informationen sind Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen, Unterschiede, die verändern.“
  2. Dr. Thomas Hanna entdeckte drei neuromuskuläre Reflexreaktionen, die sich aufgrund von Stress, traumatischen Ereignissen und belastenden Lebensumständen in unseren Körper einprägen. Sie rufen chronische Verkrampfungen hervor, die zu lösen wir nicht imstande sind. Der bewusste Teil unseres Gehirns (Cortex) hat an Kontrolle über unsere Muskeln verloren; subcortikale Reflexe herrschen vor. Das ist sensomotorische Amnesie (SMA), eine „Vergesslichkeit“ des Gehirns, die durch sensomotorisches Lernen aufgehoben werden kann.

Frau K.: Wie meinen Sie das „schädliche Muster frühzeitig erkennen“?

Erich Weidmann: In unserem Alltag greifen wir auf automatisierte Bewegungsabläufe zurück, die wir Muster genannt haben, denen wir besonders gut folgen können. Wenn nun aber ein anderes Verhalten erforderlich wird, als wir uns gewohnt sind, sei es aus gesundheitlichen oder anderen Gründen, dann muss dieses auf einer tieferen Ebene erlernt bzw. verändert werden. Genau diese Verhaltensänderung lernen wir in der Bewegungswerkstatt und nennen es ‘Entwicklung der eigenen Bewegungskompetenz’. In den Bewegungswerkstätten unterstützen wir die TeilnehmerInnen an der eigenen Bewegungskompetenz zu arbeiten, welche aus den folgenden drei Komponenten besteht:

•    Differenziert wahrnehmen: Verfeinerung der Sensibilität meiner Bewegungswahrnehmung
•    Differenziert variieren: Die Erweiterung meines persönlichen Gestaltungsspielraums
•    Viabel (passend) handeln: Entwicklung von passenden Verhaltensmöglichkeiten

Die Anleitungen dieser Komponenten sind so gestaltet, dass die TeilnehmerInnen ihre eigene Bewegung mit unterschiedlichen Perspektiven erforschen können. Bewusst beginnen wir diese Einheiten mit einfachen Aktivitäten. Danach geht es darum alltägliche Bewegungen, z. B. drehen auf die Seitenlage, mit der gewählten Perspektive zu beobachten. Die Anleitungen zielen darauf ab, dass die TeilnehmerInnen in dieser Aktivität viele neue Varianten ausprobieren und entdecken. Dadurch können „schädliche“ Muster frühzeitig erkannt und automatisierte Bewegungsabläufe verändert und den gesundheitlichen Umständen angepasst werden.

Herr A.: Ausprobieren und entdecken, das hört sich spielerisch an?

Erich Weidmann: Tatsächlich, in den Bewegungswerkstätten erlebe ich immer wieder, dass eine Bewegung, die im ersten Moment simpel ist, ein grosses Potential hat, einen Menschen neugierig zu machen. Freudige Neugier neues zu erforschen und zu entdecken steckt in uns Allen. Bei Kleinkindern können Sie dies gut beobachten. Unermüdlich entwickeln sie ihre Fähigkeiten, indem sie Herausforderungen in ihrer Bewegungsentwicklung im Sinne von ‘geht – geht nicht’ bearbeiten. Z.B. versucht ein Kleinkind Tausende Male sich auf die Seite zu drehen oder sich aufzurichten, bis es dies geschafft hat. Diese Fähigkeiten stecken in jedem von uns: So wie Bilder und Erinnerungen in uns aufsteigen, steigen auch die spielerischen Fähigkeiten in uns auf, auf die eigene Bewegung zu achten, Unterschiede wahrzunehmen und unser Möglichkeiten zu erweitern. Das empfinde ich als sehr wertvolle Momente. Wertvoll, weil ich mir sicher bin, dass dieses Spiel in jeder Lebensphase ein wichtiger Teil ist, um eine grosse Vielfalt von Möglichkeiten – gerade was die eigene Bewegung betrifft – zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Frau H.: Das ist Interessant, wie muss ich mir denn eine solche Bewegungswerkstatt ganz konkret vorstellen?

Erich Weidmann: Eine Bewegungswerkstatt beginnt mit einer kurzen Einführung in ein Thema, welches nachfolgend erforscht wird. Im Sitzen werden Ideen eingeführt und Beispiele gezeigt, wie dieses Thema in der eigenen Bewegung entdeckt werden kann. Danach geht es mit mehr oder weniger Unterstützung von uns Trainern auf die Matten am Boden. Die relativ harte Umgebung der Matten und die Möglichkeit, das Gewicht all seiner Körperteile abzugeben, hilft Unterschiede in der eigenen Bewegung besser zu beobachten. Die Anleitung zum Thema wird über Worte und Berührung von uns Trainern gestaltet. Dabei geht es darum, dem Einzelnen spezifisch zu helfen in seiner Bewegung interessante Unterschiede zu entdecken. So vergehen die ersten 45 Minuten. Danach folgt bei Kaffee und Kuchen der Austausch und das Gesellige. Das kann gut nochmals 30 Minuten dauern!

Herr D. Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage basiert Kinaesthetics?

Erich Weidmann: Die Begründer von Kinaesthetics, F. Hatch und L. Maietta, wurden wesentlich vom Verhaltenskybernetiker K. U. Smith beeinflusst und bauten dessen „Feedback Control Theory“ in das theoretische Rahmengebäude von Kinaesthetics ein. Smith setzte sich mit der Erklärung aller Lebensvorgänge durch Rückmeldeschleifen und zirkuläre Prozesse in vielen Experimenten und theoretischen Schriften auseinander. In der jungen Geschichte des europäischen Kinaesthetics-Netzwerks haben die wissenschaftlichen Studien von Umberto Maturana, Francisco Varela, Karl Heinz von Förster und Gregory Baetson eine Bedeutung. Innerhalb von Kinaesthetics entwickelten sich unter diesen Einflüssen weitere theoretische Elemente. Das am weitesten entwickelte, ist das „Kinaesthetics-Konzeptsystem“. Es ist ein einzigartiges Instrument, um Unterschiede und Qualitäten in menschlichen Aktivitäten zu verstehen.

«Erfahrung schafft Wissen»

Der weg zu Ihrem eigenen Gesundheitswesen
Erich Weidmann, Kinaesthetics-Trainer
(Gratis E-Booklet)