Erkrankung meines Jugendidols ! Chancen eines Perspektivenwechsels im Hinblick auf Demenzerkrankungen >>>PDF
Kopfstoss und Tor! Fritz Künzli versenkt den Ball auf Flanke von Köbi Kuhn. Mein Jugendidol hat getroffen, immer wieder – und jetzt das! Vor kurzer Zeit erschien im «Blick» ein Artikel über Fritz Künzlis Alzheimererkrankung, in dem unter anderem Folgendes zu lesen war:
«Sie begleitete ihn auf dem Weg in die Dunkelheit, jetzt führt sie Fritz Künzli (71) zurück ins Licht. […] Monika Kaelin hat auf einen Schlag alle seine Medikamente abgesetzt. Dadurch ist der Patient deutlich ruhiger und zufriedener geworden.» Denn zuvor sei es sehr schwer gewesen: «Wir gingen durch die medizinische Hölle.» Doch nun kann Monika Kaelin glücklich sagen: «Mein Fritz ist ein Wunder». (Blick, 08.10.2017)
Unterschiedliche Erklärungsmodelle für das Krankheitsbild Alzheimer
Ich bin irritiert und fühle mich zugleich bestätigt. Die Alzheimerdiagnose hinkt! Meine Krankenpflegeausbildung lehrte mich, dass die Alzheimerdemenz eine Erkrankung des Gehirns sei. Diese Sicht wurde aber schon bald infrage gestellt, denn man bemerkte, dass Menschen mit gleichen Veränderung im Gehirn über unterschiedlichste kognitive Möglichkeiten verfügen konnten. Zudem existiert auch die nicht abwegige Idee, dass Alzheimer durch Wahrnehmungseinschränkungen wie schlechtes Seh- oder Hörvermögen verursacht werde. Diese These finden vor allem Hersteller von Hörgeräten interessant. Ziemlich genau zum Welt-Alzheimertag dieses Jahres traten auch die Ernährungs- und Bewegungswissenschaften mit einer Erklärung des Krankheitsbildes hervor. Die Wissenschaftler dieser Forschungsrichtungen sind der Meinung, dass ein Drittel der Alzheimerdemenzen auf das Konto von Bewegungsfaulheit und schlechter Ernährung zurückzuführen seien. Vermutlich dürfte der Ernährungsriese Nestlé diese These ziemlich interessant finden.
«Erfahrung schafft Wissen»
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Erich Weidmann, Kinaesthetics-Trainer
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Der Fall Fritz Künzli
Ich weiss, dass das jetzt ein wenig sarkastisch war. Aber ich frage mich, was es braucht, damit wir mehr in die Erforschung von Phänomenen investieren, wie eben die Reaktion Fritz Künzlis auf die Absetzung der Medikamente durch seine Frau Monika Kaelin eines darstellt. Eine Frau verändert ihr Verhalten, sie gibt ihrem Mann keine Medikamente mehr und erlebt, wie sie es formuliert, eine Art Wunder! Im «Blick» wird zur Erklärung des Falls unter anderem ein Angehöriger der Fachwelt zitiert:
«Christoph Held (66), Autor des Buches ‹Was ist gute Demenzpflege?›, sagt es so: ‹Eine solch starke Person ist für den Demenzkranken, der die Alltagskompetenz verloren hat, wie ein zweites Ich, auf das er sich stützen kann.›» Und weiter: «‹Das wichtigste und wirkungsvollste Medikament›, sagt der Vertrauensarzt der beiden, ‹ist sie [Monika Kaelin] selbst. Sie ist eine einmalig bewundernswerte Frau, sie wächst über sich hinaus, sie schafft ihm zu Hause in Gersau eine sichere Umgebung, organisiert, pflegt, kümmert sich um alles.›» (Blick, 08.10.2017)
Ups, verstehe ich das richtig? Nicht das Abstellen der Medikamente erzeugte bei Fritz Künzli die Wirkung, sondern seine starke Frau? Damit drängt sich gleichzeitig auch ein weniger schmeichelnder Umkehrschluss auf: Führt das Fehlen starker Menschen im Umfeld von Betroffenen zu mehr Verhaltensauffälligkeiten?
Menschen steuern sich von innen
In meinen ersten Jahren als Pflegender erklärte ich mir Verhaltensauffälligkeiten von Demenzbetroffenen aus pathologischer Sicht. Dazu kamen aber im Laufe der Zeit einige andere Sichtweisen hinzu. Tatsächlich haben mir zum Beispiel biografische und geschichtliche Kenntnisse viele neue und konstruktive Zugänge zu den Menschen ermöglicht, deren Verhalten ich mit den mir zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erst nicht einschätzen konnte.
Heute bin ich mir sicher, dass diese unterschiedlichen Beschreibungen der PatientInnen nur zufällig gepasst haben. Menschen können auf das Verhalten anderer Menschen keinen direkten Einfluss nehmen, denn Menschen steuern sich generell selbst von innen heraus. Der äussere Einfluss durch andere ist daher mehr oder weniger als neutrale Störung zu betrachten, auch wenn sie natürlich Teil ist von dem, was insgesamt geschieht. In diesem Verständnis sind Beschreibungen, die ein Gegenüber charakterisieren, nur die eine Seite der Beziehung. Das «Wunder Fritz Künzli» ist gleichzeitig das «Wunder Monika Kaelin».
Es stellt sich also, angelehnt an Dr. Held, die Frage: Wie werde ich oder wie werden Menschen, die Demenzbetroffene begleiten, stark und stützend? Und wie genau zeigt sich diese Kompetenz? Stark könnte ja als kräftig ausgelegt werden und stützend mit einem unbeweglichen Pfeiler in Verbindung gebracht werden …
Ohnmacht
Jeder von uns erlebt in Beziehungen, wie schnell graue Wolken aufziehen, Gewitter niedergehen und die Sonne wieder scheinen können. Passende Beschreibung für gewisse Momente, oder? Mit solchen kurzen Sätzen gelingt es uns, hochkomplexe Situationen in Worte zu fassen, die in der Realität abertausende von Interaktionen beinhalten, denen wir vermeintlich ohnmächtig ausgeliefert sind. In diesem Zusammenhang wird zudem deutlich, wie zentral Sprache in Bezug auf das Verständnis von Sachverhalten sein kann. Wie um alles in der Welt soll ich aber einen demenzbetroffenen Menschen verstehen, dem ich mich mit meiner Sprache nicht mehr nähern kann? Wie soll ich diesem Menschen einen gangbaren Weg durch die alltäglichsten Aktivitäten anbieten?
Achtsamkeit – die Suche in mir selbst
Menschen erfinden das eigene Verhalten aufgrund der zirkulären gegenseitigen Beeinflussung ständig neu. Verhalten ist nicht voraussehbar. Indem ich und viele meiner KollegInnen entdeckt haben, dass wir nur uns selbst regulieren und beobachten können, begannen wir besser zu verstehen, wie wichtig es ist, auf sich und die eigene Bewegung zu achten.
Durch diese Suche in mir entwickelte ich eine Perspektive, in der ich mich als Selbstwirksam erlebe, sogar dann, wenn die Begegnung nicht «erfolgreich» war. Heute traue ich mich, nach Fragen zu suchen, die ich bearbeiten kann. Daraus entstand eine Vielfalt von Anpassungsmöglichkeiten und Varianten in der Gestaltung alltäglicher Aktivitäten.
Kompetenzentwicklung und Lebensqualität
Natürlich freue ich mich für Fritz Künzli, dass er sich wohl fühlt und dass er sein Leben wieder selbstständiger gestalten kann mithilfe der fürsorglichen und kompetenten Unterstützung seiner Frau. Sicher könnte man sich auch die Frage stellen, was passieren wird, wenn Monika Kaelin das alles einmal nicht mehr stemmen kann. Mich drückt allerdings die Tatsache, dass die Fachwelt sich einmal mehr nicht dafür interessiert, welche Kompetenzen dieser Frau ihrem Mann halfen, sein Leben zu gestalten. Es wäre spannend zu erfahren, wie Menschen aus einer Ohnmacht heraus die Stärke entwickeln können, in sich nach Möglichkeiten und Varianten der Beziehungsgestaltung zu suchen, die sich dann als passende Stützen in der Gestaltung der alltäglichen Aktivitäten erweisen!
Ich finde es bedauerlich, dass wir in die Erforschung solcher Erfolgsgeschichten praktisch keine Geldern fliessen lassen, obwohl die Kompetenzen der daran jeweils Beteiligten offensichtlich eine unglaubliche Wirkung auf das Leben und die Lebensqualität von Demenzbetroffenen haben können.
Ich wünsche Frau Kaelin, dass sie in Bezug auf die Möglichkeiten der Aktivitätsgestaltung weiterhin Suchende und Forschende bleiben kann. Ich hoffe, dass sie ihre Erfahrungen und Erkenntnisse mit anderen Suchenden teilen kann. Ich bin mir sicher, dass sie auch weiter nach Varianten und Möglichkeiten suchen wird, die sie meinem Fussballidol anbieten kann. Und ich denke, Fritz Künzli wird alles daran setzen, die Pässe, die ihm zugespielt werden, anzunehmen!
Erich Weidmann
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Schöner Beitrag! Es gibt zu viel «Un» in der Wissenschaft, vor allem, wenn die Lobby ihre Finger im Laborröhrchen hat 🙂 LG Freija
ja, das kann sein. Eine Frage wird sein, wie die Gesundheitsentwicklung mehr in den Vordergrund kommen kann…
Schauen Sie mal hier….
https://ontogenese.net/
Hallo Herr Luchs
herzlichen Dank für Ihren Beitrag. Daraus spricht ein grosses Interesse an den Menschen die mit einer Demez leben. Ich habe soeben das Buch von Gerald Hütter https://www.amazon.de/Raus-aus-Demenz-Falle-Selbstheilungskr%C3%A4fte-rechtzeitig/dp/3442342090 gelesen. Dieser Wissenschaffende traut sich eben auch das wissenschafftliche zu hinterfragen. Mich würde es freuen wenn das gazheitliche Menschenverständnis zukünftig mit mehr Mitteln ausgestattet würde. Vieleicht auf Kosten von Isolierten Forschungen an einem Hirn. Ich meine «einem» wörtlich. Ich gehe davon aus, dass wir keinen keinen Zugriff auf dieses komplexe Organ haben. Ein Organ, dass nur in einem zirkulären Modus funktioniert…
Ein BLICK-Artikel war noch nie eine wissenschaftliche Referenz und wird es auch nie sein. Demenz ist eine äusserst komplizierte Angelegenheit. Wie Sie sicher wissen, macht die Alzheimererkrankung gut die Hälfte aller Demenzerkrankungen aus. Daneben gibt es noch andere Demenzformen wie die vaskuläre Demenz, die Levy-Body-Demenz und die frontotemporale Demenz. Die Diagnose ist oft sehr schwierig, da, wie man heute weiss, nicht selten Mischformen vorkommen. Um welche Demenzform(en) es sich handelt, kann eigentlich erst der Neuropathologe nach dem Tod des Patienten mit Sicherheit feststellen. Entsprechend schwierig ist es oft, die geeignete medikamentöse Therapie zu finden. Was bei der einen Demenzform hilft, ist bei der anderen kontraproduktiv. Leidet der Patient an einer Demenzkombination, kann passieren, dass die Medikation scheitert.
Das spricht aber nicht grundsätzlich gegen Medikamente. Wenn das Medikament passt, kann es die Lebensqualität wesentlich verbessern. Dagegen ist nichts einzuwenden, oder?
Demenz ist eine degenerative Erkrankung des Gehirns. Es ergibt keinen Sinn, das zu bezweifeln, denn Abertausende CTs, MRTs und sezierte Gehirne belegen es. Tatsächlich ist es aber so, dass sich die Degeneration des Gehirns unterschiedlich auswirken kann. Bei manchen Betroffenen sind die Auswirkungen viel geringer als bei anderen. Zur Erklärung gibt es eine These, die sich durch einige Studien erhärtet hat: Menschen, die geistig immer aktiv waren, Musiker zum Beispiel, haben ein sehr leistungsfähiges Frontalhirn. Dieses ist kein primäres Alzheimerareal. Und dieses gut trainierte Frontalhirn beginnt Funktionen zu übernehmen, welche in den Alzheimerarealen ausfallen. Man hat die Plastizität des Gehirns lange massiv unterschätzt. Also die Kompensation durch andere, nicht degenerierte Hirnareale kann erklären, weshalb sich Alzheimer bei verschiedenen Betroffenen unterschiedlich auswirkt.
Übrigens: Dr. Christoph Held ist Arzt mit jahrzehntelanger Erfahrung mit Demenzpatienten, und genau er ist scharfer Kritiker der Tendenz zur «Entklinisierung» von Demenz. Zitat: «Dement-Sein wird nicht mehr als neurodegenerative Krankheit, sondern als alternative Daseinsform gedeutet. Das ist eine falsch verstandene Entstigmatisierung.» Quelle:
https://www.nzz.ch/gesellschaft/gerontopsychiater-christoph-held-ld.1311312
Dass tragfähige persönliche Beziehungen und der liebevolle Umgang mit Menschen mit Demenz enorm wichtig sind, ist in der Fachwelt eigentlich schon lange bekannt. Als Pflegender ist ihnen der personzentrierte Ansatz von Tom Kitwood sehr wahrscheinlich bekannt. Er stammt aus den 90er-Jahren! Aber ich gebe Ihnen Recht, im Imperium der westlichen Schulmedizin, der Pharmaindustrie, der Krankenkassen und der Gesundheitspolitik ist man noch weit davon entfernt, die Bedeutung dieser Ebene zu würdigen.
Aber: Den Menschen ganzheitlich zu verstehen, setzt ja nicht voraus, wissenschaftliche Erkenntnisse auszuschliessen. Es müsste doch möglich sein, Demenz als neurodegenerative Krankheit zu erforschen und zu behandeln und gleichzeitig den Menschen mit Demenz im Sinne von Tom Kitwood zu begegnen.
Hier noch der Link auf einen aktuellen, anregenden Artikel zu diesem Themenkreis (Christoph Held kommt auch vor):
http://folio.nzz.ch/2017/november/verwirrung-rundum
Auch die Aargauer Zeitung meldet sich!
https://www.aargauerzeitung.ch/panorama/vermischtes/fcz-legende-fritz-kuenzli-wurden-die-alzheimer-medikamente-abgesetzt-experten-warnen-131805162