Alle sprechen von Haltung. Aktuell lese ich dieses Wort fast in jedem Post. Es scheint gerade inflationär verwendet zu werden. Fällt dir das auch auf?
Haltung zeigen. Einen Standpunkt vertreten. Stellung beziehen. Keine Fahne im Wind sein. Was bedeutet Haltung für dich?   Wieviele Andersdenkende und Andersempfindende haben Platz an deiner Seite?

Danke für diese Fragestellung und deinen Post. Zunächst möchte ich festhalten, dass sich die Haltung eines Menschen nicht direkt zeigen kann. Was wir wahrnehmen, ist das Verhalten in Interaktionen mit anderen oder mit Gegenständen.

Mich beschäftigt die oft beobachtete Diskrepanz zwischen Haltung und Verhalten – sowohl bei mir selbst als auch bei anderen. Diese Spannung entsteht, wenn Menschen in Begegnungen unpassende “Angebote” machen oder machen können. Als Beobachter empfinde ich dies als schmerzlich, und es erfordert Bewältigung von der Person, die sich “verhält”.

Ich kenne das von mir selbst: In solchen Situationen suchte ich die Ursachen für die Spannung – die entsteht, wenn Haltung und Verhalten nicht übereinstimmen – oft im Außen: beim anderen Menschen, bei den Dingen oder sogar im Umstand das die Welt so unverfroren weiter dreht.

Mein Wunsch ist es, diese Spannungen mehr und mehr anzunehmen und daraus eigene Fragen und Themen entstehen zu lassen, die mir helfen, in zukünftigen Begegnungen meine Haltung und mein Verhalten in Einklang zu bringen. Nur so kann wahre Verantwortung gelebt werden: indem ich mich dem fortwährenden Spiel eigener Fragen stelle und den Mut habe, die Antworten als vorläufig zu betrachten.

Als Pflegender möchte ich beispielsweise folgende Haltung in jedem Moment leidenschaftlich leben:

»Wir möchten nicht nur einen Ort zum Leben, sondern ein Zuhause voller Herzlichkeit und Lebensfreude bieten. Menschen sollen sich bei uns gut aufgehoben wissen, sich wertgeschätzt und geborgen fühlen. Dafür setze ich mich täglich ein.«

Doch ich musste erfahren, dass diese Haltung im Alltag oft durch mein Verhalten untergraben wurde. Manchmal war ich in meinen Bewegungen zu schnell für mein Gegenüber, was zu Schmerz, Aggression oder Angst führte. Oder ich suchte nicht nach den Möglichkeiten des anderen, was Frustration, Depression oder Hilflosigkeit auslöste.

Ich gestehe, es brauchte viele Jahre, um zu verstehen, dass diese Momente nicht an den dementen Bewohner, dem Hemiplegiker oder dem fehlenden Personal lagen. Es ging vielmehr darum, mein Verhalten so weiterzuentwickeln, dass ich in meinem Arbeitsfeld – der Pflege – über eine Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten verfüge. Nein, auch heute noch scheitere ich mit meinem Verhalten an meiner eigenen Haltung. Doch diese Momente sind für mich oft wertvolle Lernsituationen.

Geholfen hat mir, mein Verhalten anfänglich im “Labor” zu erforschen und zu entwickeln. Dann kam der entscheidende Moment, als ich erkannte, dass der anspruchsvolle Pflegealltag zu einem Feld für meine Verhaltensforschung wurde – immer mit dem Ziel, in vielen Begegnungen passend interagieren zu können.

Als Leiter eines Wohnbereichs für Menschen mit Demenz am Lebensende schätze ich Beobachtungen, in denen meine Mitarbeitenden Haltung und Verhalten nah beieinander gestalten können. Es freut mich, wenn sie sich selbst Fragen stellen, wie sie für unpassende Momente mehr Handlungsoptionen entwickeln können.