Lesen Sie in diesem Beitrag, warum der Mythos der rückenschonenden Betthöhe irreführend und bisweilen gesundheitsschädigend sein kann und warum es wichtig ist, die eigene individuelle Arbeitsweise zu verfeinern und weiterzuentwickeln, statt äußeren Standards zu folgen.
AutorInnen:
Barbara Meier
Erich Weidmann
Die Beobachtung.
Als Kinaesthetics-TrainerInnen beobachten wir oft, dass Pflegende davon ausgehen, dass das Pflegebett so weit wie möglich hochgestellt werden muss, und sie diese Maßnahme gegenüber anderen teilweise nachdrücklich vertreten. Auf die Nachfrage, was der Nutzen dieser «richtigen Betthöhe» sei, wird praktisch immer ein direkter Zusammenhang zu rückenschonendem Arbeiten hergestellt. Diskussionen und Auseinandersetzungen zeigen, dass der Zusammenhang zwischen der Höhe des Bettes und Rückenschmerzen in der Pflegeausbildung als gegeben vermittelt wird. Weiter berichten viele Befragte, dass die «richtige Betthöhe» von Vorgesetzten vehement eingefordert werde.
Hochgestellte Betten können schaden.
Wenn Pflegende unreflektiert einer diktierten «richtigen Betthöhe» folgen, dann kann das für ihren Rücken möglicherweise sogar gefährlich werden und zudem die Vielfalt ihrer Bewegungsangebote einschränken. Wir laden Sie ein, sich mit unseren Argumenten auf eine intensive Auseinandersetzung mit diesem Thema einzulassen.
Gewohnheit.
Als Pflegende nutzen wir die Möglichkeiten der Pflegebetten, um uns während der Unterstützung zu schonen. Wie bei jedem Hilfsmittel stellt sich die Frage der angepassten Nutzung. Kann es sein, dass eine für die jeweilige Tätigkeit unangebrachte Höhe den zu erwartenden Nutzen aufhebt? Welche Bewegungsanpassung erfordert eine Höhenanpassung des Bettes? Welche Arbeitshöhe hilft, passende Möglichkeiten zu entwickeln und ist somit die ergonomisch beste Arbeitshöhe für meine Bewegung und die aktuelle Herausforderung?
Ergonomische Arbeitshöhe.
Wir gehen davon aus, dass sich diese Fragen nicht aus einer Dritten-Person-Perspektive untersuchen lassen, auch wenn dies vielfach in Präventionsunterlagen unter Verwendung der Präposition «man» getan wird. Solche Anleitungen sind unserer Meinung nach nicht einmal bei Beschreibungen, wie man Kisten oder andere Gegenstände heben sollte, anbracht, geschweige denn bei der Arbeit mit und an Menschen. Denn bei der Pflegearbeit sind wir mit Personen in Bewegung, die sich fortlaufend selbst bewegen und von innen heraus steuern. Dies führt zu hochkomplexen Interaktionen zwischen den Beteiligten.
Die körperliche Belastung durch vorgegebene Maßeinheiten und Verhaltensregeln wegbringen zu wollen, ist aus drei Gründen nicht zielführend. Erstens ist es für kompetente Pflegende nicht nötig, zu heben, weil sie den Menschen zeigen kann, wie sie sich selbst bewegen können, was das Heben obsolet macht. Zweitens ist bei herausfordernden Interaktionen die Achtsamkeit auf die eigene Bewegung grundlegend. Und Drittens schränkt eine standardisierte Betthöhe die Entwicklung von vielfältigen Angeboten ein.
Ein Beispiel für den dritten Punkt ergibt sich, wenn ein Mensch beim Aufsitzen an den Bettrand unterstützt wird. Beim hochgestellten Bett hängen die Beine in der Luft, die KlientIn wird dadurch unsicher, weil der Kontakt zum Boden nicht gefunden und somit das Gewicht nicht differenziert kontrolliert werden kann. Wenn in diesem Fall das Bett so tief eingestellt ist, dass die Füße den Boden erreichen, entsteht für die unterstützte Person Sicherheit durch selbstkontrollierte Bewegung.
Ergonomisch arbeiten.
Ergonomie ist die Wissenschaft der Gesetzmäßigkeit menschlicher Arbeit. Wir plädieren dafür, dass die Frage, welche Betthöhe passend ist, nur durch das sich in der Pflege befindliche respektive pflegende Individuum beantwortet werden kann. Wir gehen davon aus, dass nur das Individuum selbst aufgrund der jeweiligen Situation seinen für ihn passenden ergonomischen Weg finden kann. Nur achtsames Beobachten der eigenen Bewegung während der Interaktionen führt beim Individuum zu Schlussfolgerungen, die zu einer produktiven Verbesserung seiner eigenen Bewegungsmöglichkeiten und damit -kompetenzen beitragen können. Dabei ist erfahrbar, dass es nicht um vorbestimmte Zustände wie die richtige Betthöhe oder die richtige Stellung der Wirbelsäule geht. Vielmehr entsteht eine ergonomisch passende Bewegung durch die fortlaufende dynamische Anpassung der eigenen Bewegung.
Wer passt sich an?
In Kinaesthetics-Ausbildungen werden viele Erfahrungen auf Gymnastikmatten am Boden angeleitet. Dabei stellen viele Teilnehmende fest, dass vor allem das Anleiten des Positionswechsels von der Rückenlage in die Seitenlage besser geht als stehend am Bett. Das ist einerseits auf die härtere Unterlage zurückzuführen. Andererseits ist zu beobachten, dass die anleitende Person ihren ganzen Körper vielfältig und differenziert in die Bewegungsunterstützung einbringen muss. Sie muss sich mit einer größeren Vielfalt an Bewegungsrichtungen in die Interaktion einbringen. Die unterstützende Person nutzt die Möglichkeiten der eigenen Anatomie sehr vielfältig. Es wird dadurch ein deutlicher Unterschied im Vergleich zur Arbeit an einem hochgestellten Bett wahrnehmbar.
Mitbewegen schützt den Rücken.
Die eigenen Erfahrungen zu beachten, ist grundlegend, um eine Vielfalt an Anpassungsmöglichkeiten zu entwickeln. Wir baten Pflegende, sich in der Praxis mit einer selbst gewählten Forschungsfrage auseinanderzusetzen und die Auswirkungen unterschiedlicher Betthöhen auf ihre Anpassungsmöglichkeiten zu beschreiben. Lesen Sie in der nachfolgenden Tabelle nach, was diese KollegInnen aus der Ich-Perspektive Bemerkenswertes herausgefunden haben. Weitere Beispiele von Forschungsfragen finden Sie im Arbeitsblatt im Anhang dieses Beitrages. Benutzen Sie diese, um Ihre eigenen Erfahrungen zu beschreiben.
Das Augenmerk ist bei meinem Gegenüber. Mit dem kinästhetischen Sinn nehme ich fast nur wahr, was meine Arme tun. Ich bin so durch das Bett fast zweigeteilt.
Tiefgestelltes Bett
Ich bemerke die Bewegung der Beine, ich achte mit dem kinästhetischen Sinn sogar auf Druckunterschiede bei den Füßen, Beinen und Hüften. Ich nehme den ganzen Körper wahr. Ich probiere viel mehr Möglichkeiten aus, so die Art, wie ich stehe, und die Möglichkeit, mich in meiner Bewegung wohlzufühlen.
Hochgestelltes Bett
Die Masse Oberkörper zieht wegen der Höhe eher nach oben beziehungsweise sie zieht durch den Zwischenraum an der Hüfte die Beine ebenfalls hoch. Dies führt dazu, dass ich auf den Zehenspitzen gehe. Die Zwischenräume sind durch den Zug an der Hüfte eher eingeschränkt. Die Bewegungsmöglichkeit ist kleiner. Die Zwischenräume an den Armen sind offen, die Bewegungsmöglichkeit ist größer.
Tiefgestelltes Bett
Die Zwischenräume der Schultern können für große Bewegungen genutzt werden. Der Oberkörper wird von den Armen gezogen. Da ich jedoch eher in die Knie gehen muss, um überhaupt runterzukommen und die Balance zu halten, sind die Beine beziehungsweise der Zwischenraum in der Hüfte eingeschränkt. Dies wirkt sich auf die Bewegungsmöglichkeit des Oberkörpers aus, die Arme ziehen zwar durch die Zwischenräume am Arm, doch die Zwischenräume der Hüfte beeinträchtigen größere Bewegungen des Oberkörpers.
Hochgestelltes Bett
Durch die Höhe des Bettes ist meine Beinfreiheit deutlich eingeschränkt. Mein Gewichtsverlauf geht nur bis zum unteren Rücken. Dort spanne ich an oder muss Gewicht auf den Bettrand abgeben.
Wenn das Bett tiefgestellt ist, kann ich den Gewichtsverlauf über die Knochen meiner Beine gestalten und beobachten.Entdeckung: Eigentlich egal, ob hoch oder tief, es ist relevant, wie kompetent ich in meiner Bewegung bin!
Aussenperspektive
Außenperspektive. Wie oben beschrieben, haben die Pflegenden eine Forschungsfrage gewählt und beobachteten und analysierten dabei ihre eigene Bewegung am Pflegebett. Folgendes haben wir von außen beobachtet:
- Viele Beteiligte beschreiben sehr zeitnah, dass sie ihre Bewegung «einfrieren» oder anders ausgedrückt die Spannung steigern.
- Diese zeitnahe Feststellung geschah unabhängig von der Höhe des Bettes.
- Die gewählte Forschungsfrage und deren Bearbeitung scheint es leichter zu machen, den Fokus auf die eigene Bewegung zu lenken und in sich selbst nach passenden Varianten und Möglichkeiten zu suchen.
- Das Untersuchen und Analysieren mithilfe einer Forschungsfrage hat bei vielen Beteiligten dazu geführt, dass die über Jahre hinweg als optimal empfundene Positionierung angepasst wurde.
- Die eigene, vielfältige Erfahrung verdrängte fast immer das Empfinden von richtig oder falsch.
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