Bewegen bis zuletzt – Ist Sterben eine Aktivität?

Erich Weidmann, Kinaesthetics Trainer 

Achtzig, neunzig oder mehr Jahre können uns vergönnt sein. Auf dem Weg dahin werden wir uns mehr und mehr mit dem Sterben und dem Tod beschäftigen. Einige werden sich buchstäblich ins Thema einlesen und bewusst Stellung beziehen, andere möglicherweise jede sprachliche Auseinandersetzung damit ablehnen. Einige werden dazu keine Möglichkeit mehr haben, weil sie gesundheitlich nicht mehr in der Lage dazu sein werden.

Sterben und Tod

Für mich ist es wichtig, Sterben und Tod auseinander zu halten. Beim Tod oder «Totsein», geht es um die Frage, was nach dem letzten Atemzug folgt. Die Auseinandersetzung damit finde ich wichtig und legitim. In diesem Beitrag geht es mir aber um das Sterben, vermutlich der lebendigste Teil des Lebens. Mich beeindruckt, wie unterschiedlich Menschen das Sterben gestalten. Für die Pflegepionierin Sr. Liliane Juchli ist Sterben eine Lebensaktivität. «Werden, Sein und Vergehen» ist ihre ganzheitliche Sicht. Und dabei geht es auch um die Bedeutung der Sinnfindung in Lebenskrisen sowie in der Sterbephase.

sterben der lebendigste Teil des Lebens

Meine Intensivste Geschichte

Die automatische Tür am Eingang tönt diesen Morgen laut, fast fremd. Viele Male durchschritt ich diese Tür in den letzten Monaten. Vor sechs Stunden, nachts um zwei Uhr, das letzte Mal. Müde verabschiedete ich mich von meiner sterbenden Mutter. «Wann wird Mutter sterben?» ist der Gedanke, der mich beschäftigt. Auf der Station werde ich freundlich begrüsst, ich schliesse daraus, dass alles wie bisher ist, nichts Neues sich ereignete. Beim Betreten des Zimmers höre ich das Summen der Wechseldruckmatratze und die tiefen Atemzüge meiner Mutter. Ich berühre sie sanft und spreche sie an. Suche nach Zeichen, die uns verbinden.
Seit sieben Tagen kann sie nicht trinken, nicht essen. Wieso nur kann sie nicht sterben? Ich entschliesse mich, wie bei allen Besuchen in den letzten drei Wochen, die Wechseldruckmatratze auf «stabil» zu stellen. Dann beginne ich sie langsam am Bein zu berühren und suche nach Impulsen, die ihr helfen, ihr Bein zu bewegen. Ich spüre, wie sie ihre hohe Spannung ein wenig abbauen kann. Ich bewege mich mit Mutter zusammen und merke, wie gut mir dieser Dialog über Berühren und Bewegen tut – diese so gefundene Verbindung ist eine unvergessliche Erfahrung. «Ich hätte jetzt Zeit, die Pflege bei Frieda zu machen», sagt die eben das Zimmer betretende Pflegefachfrau. «Ja, selbstverständlich, kommen Sie, ich helfe Ihnen gerne dabei», antworte ich. Sie beginnt die Pflegeutensilien vorzubereiten, während ich das Pflegebett ganz nach unten fahre. Schwester Alexandra schaut mich verdutzt an. «Wollen Sie das Bett nicht oben haben?» – «Nein, ich möchte Mutter helfen, an den Bettrand zu sitzen.» – «Was wollen Sie?», fragt sie zurück. Jetzt treffen Welten aufeinander. Ich sage nochmals ruhig: «Wir helfen Mutter, an den Bettrand aufzusitzen, so können wir sie gut bei der Körperpflege unterstützen.» – «Aha», sagt Alexandra.

In der Bewegung unterstützen

Ich beginne Mutter so zu unterstützen, dass sie sich in kleinen Schritten langsam auf die Seite drehen kann. «Schwester, können Sie die Beine ganz langsam über die Bettkannte nehmen?», bitte ich. Langsam führe ich den Brustkorb von Mutter in Richtung Sitzen. Da geschieht es: Fast wie ein Wunder anmutend beginnt Mutter sich mit beiden Armen abzustützen. Mit kleinen Gewichtsverlagerungen kann sie ihr Gewicht organisieren, bewegt sich, bis sie am Bettrand sitzt. Staunend sehen wir dieses selbstwirksame und passende Bewegen einer Sterbenden. Ich setze mich neben Mutter, Alexandra nässt den Waschlappen und beginnt den Rücken von Mutter sanft zu waschen. Mutter gibt Töne des Wohlseins von sich, lässt den Kopf langsam nach vorne hängen und verlässt diese Welt. Langsam lege ich den leblosen Körper von Mutter zurück ins Bett.
Alexandra und ich blicken abwechslungsweise auf den leblosen Körper und auf das Gegenüber. Unsere Blicke kreuzen sich, durch den Schleier meiner Tränen sehe ich die Tränen, die Alexandra weint. Mitten in die stille Trauer sagt Alexandra: «Das habe ich noch nie erlebt … so friedlich … und sie hat noch mitgeholfen beim Aufsitzen!»

«Erfahrung schafft Wissen»

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Erich Weidmann, Kinaesthetics-Trainer
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Ungewohnt

«Schon ein wenig seltsam, Sie wollen, dass ihre Mutter friedlich sterben kann, und jetzt mobilisieren Sie sie an den Bettrand … Geht’s eigentlich noch?» Das sagte man mir einige Tage vor dem Tod meiner Mutter, als ich ihr jeweils an den Bettrand geholfen habe. Meiner Mutter eine sanfte Stütze gewesen zu sein, während sie die ganze Spannung loslassen konnte und starb, war eine eindrückliche Erfahrung.
War mein Verhalten in diesem Moment richtig oder falsch? Ich weiss es nicht und werde es nie herausfinden. Ich bin mir aber sicher, dass dauerndes Liegenlassen ebenso richtig oder falsch sein kann. In den letzten acht Jahren, in denen wir als Familie unsere Mutter begleiteten, standen wir immer wieder vor Fragen, die von uns eigentlich nicht richtig entschieden werden konnten. Je nach Perspektive haben wir vermutlich eine richtige oder falsche Wahl getroffen. Mutter gestaltete ihr Leben in diesen Jahren mit einer Alzheimerdemenz. Die Begleitung meiner Mutter durch die Zeit mit Demenz und in ihrem Sterben half mir, mich intensiver als Suchender und Fragender auf solche Begegnungen einzulassen.

Dilemma

Betreuende haben den Anspruch, die Pflege so zu gestalten, dass der sterbende Mensch sich mitbeteiligen kann und keine zusätzlichen Schmerzen entstehen. Diese Haltung ist selbstverständlich. Beim konkreten Helfen ist dies allerdings eine Herausforderung. Die gutgemeinte Hilfe kann Schmerzen, Verspannung oder Atemnot verursachen. Pflegende kennen diese Situationen. Die Gefühle der Ohnmacht und der Anspruch, solche Erfahrungen professionell zu reflektieren, stehen oft im Widerspruch zueinander. Zeit- und Personalknappheit sowie der hilflose Zustand der Sterbenden müssen dabei oft als Ventile für die entstehenden Emotionen hinhalten. Letztlich führt dies im wahrsten Sinne des Wortes in eine Ohnmacht und zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins.
Es ist nicht möglich, unpassende Erfahrungen ungeschehen zu machen. Eine herausfordernde Situation in und mit der eigenen Bewegung zu reflektieren, lenkt die Aufmerksamkeit auf das eigene Potenzial. Dadurch wird die unpassende Erfahrung zur Lernmöglichkeit. Die professionelle Reflexion stellt die Frage: Was hilft mir, ein für diese Situationen passendes Verhalten zu entwickeln? Hierfür gibt es verschiedene Vorgehensweisen.

Schritte wagen

Sprachliches Unbehagen

Pflege nachzuspielen, irritiert viele Betreuende, insbesondere wenn es sich um herausfordernde Situationen mit einem sterbenden Menschen handelt. Vermutlich steht dieses Unbehagen noch in Verbindung mit dem «Rapport». Vor noch nicht allzu langer Zeit wurden in der Pflege bis zu sechs Rapporte durchgeführt. Der Reihe um wurde oft in ähnlichen «Textbausteinen» rapportiert. Einige werden sich an die Zeiten erinnern. Über Sprache wurde sozusagen «exportiert», was man in Bewegung erfahren hat. Dabei sprach man fast ausschliesslich von der PatientIn und was man an ihr gemacht hat.

«Körperlernen»

Zweitens führt die Auseinandersetzung über Berühren und Bewegen zu einem gleichzeitigen «Körperlernen». Dieses geht bei der Beschreibung des Nachspielens oftmals vergessen. Im Alltag aber zeigt es sich in situativ passenden Angeboten, die man seinem Gegenüber machen kann. Diese können einen Unterschied entstehen lassen in Bezug auf die Unterstützungsqualität. Viele Berichte von Pflegenden zeugen davon. Darum lohnt es sich, diese Form von Reflexion für sich selber zu entwickeln.

Kinaesthetics und die Sprache für Bewegungserfahrung

Kinaesthetics bietet die Möglichkeit, herausfordernde Pflegesituationen über die eigene Bewegung zu reflektieren. Kinaesthetics schlägt dafür vor, die Situation mit einer BerufskollegIn nachzuspielen. Diese Form der Reflexion beinhaltet zweierlei. Erstens gelingt es, mit den verschiedenen Konzeptblickwinkeln die Erfahrung aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und im Anschluss zu beschreiben. Daraus entwickelt sich eine erfahrungsbasierte Fachsprache.

Unterstützung durch Bewegung

Bis heute suchen Pflegende nach passenden Gefässen, in denen zugunsten der PatientInnen die «passende» Pflege geleistet werden kann. Erfolgreiche Pflege setzt die Möglichkeit voraus, die eigene Bewegung zu erforschen und zu entdecken. Dazu braucht es Gefässe, in denen gewünscht und gefordert wird, Pflege nachzuspielen. In diesem Spiel entstehen Möglichkeiten und Varianten, die Pflegende als passende Angebote in ihrer alltäglichen Arbeit anbieten können. Wertschätzung und Respekt sind die passenden Begleiterscheinungen.

Kinaesthetics und Palliativpflege

In den vergangenen Jahren hat sich in Deutschland Axel Enke intensiv mit dem Bereich der Palliativpflege beschäftigt und Schulungsangebote für viele Pflegende entwickelt. Dieses Engagement hat zum einen zum Ziel, Palliativpflegenden die stetige Entwicklung ihrer Bewegungskompetenz zu ermöglichen. Zum anderen sollte dadurch die Entwicklung passendender Reflexionsmöglichkeiten bei herausfordernden Pflegesituationen gefördert werden. Parallel dazu wird zudem in einer Forschungsarbeit der FHS  St. Gallen zur Palliativpflege aktuell erforscht, welche Wirkung es hat, mit Kinaesthetics die eigene Bewegungskompetenz zu entwickeln.

Palliative Care

Sterben ist vermutlich der intensivste Teil des Lebens. Ein hochkomplexes und eindringliches Geschehen, das unvorhersehbar für alle Beteiligten ist. Zurückgebliebene erinnern sich intensiv an solche Momente. Einen sterbenden Menschen mit einem Mantel zu bedecken respektive zu umhüllen (lateinisch: palliare) und dabei fürsorglich und achtsam (englisch: care) zu sein, ist eine berufliche Herausforderung, die Pflegende «als die, die sie sind» bewältigen. Viele dieser Erfahrungen bleiben als Geschichten mit dem eigenen Leben verwoben.

Palliative Care* (englisch; von lateinisch cura palliativa[1] von palliare „mit einem Mantel bedecken“. engl. care „Fürsorge, Versorgung, Betreuung, Aufmerksamkeit.

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