Schreie, die bewegen: Ein Blick hinter die Fassade – Teil 2

Im ersten Teil dieser Blogreihe habe ich von meiner ersten Begegnung mit Frau Hug berichtet. Heute tauchen wir tiefer ein und beleuchten mein Vorgehen sowie die Überlegungen bei der Beratung des Pflegeteams, um gemeinsam einen Weg im Umgang mit einer herausfordernden Situation zu finden.

Ein Team am Limit, aber hoch motiviert

Als ich das Pflegeteam im Wohnbereich traf, spürte ich schnell, wie ernst sie die Belastung durch Frau Hugs Verhalten nahmen. Jedes Teammitglied konnte auf seine eigene Weise ausdrücken, wie überfordert es sich fühlte – sei es aus Sorge um Frau Hug, um die Mitbewohnenden oder um das eigene Wohlbefinden. Die spürbare Unruhe und der Stress waren mehr als verständlich; diese Situation schrie förmlich nach einer Lösung.

Paradigmenwechsel: Vom Behandeln zum Verstehen

Frühere medikamentöse Behandlungsversuche bei Frau Hug waren erfolglos geblieben. Unsere neue Herangehensweise konzentrierte sich daher auf eine tiefgreifende Frage: Wie entstand Frau Hugs aktuelles Verhalten, und warum ist es für sie momentan stimmig? Diese Frage ist nicht direkt zu beantworten, doch der Mut, sie überhaupt zu stellen und zu erforschen, war der erste Schritt zur Veränderung.

Forschung aus der 1. Person: Eintauchen ins Erleben

Wir nutzten die Methode der “Forschung 1. Person”. Das bedeutet, dass die Pflegenden ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen im Umgang mit Frau Hug systematisch untersuchten. Subjektive Perspektiven – wie sich etwas anfühlt, was wahrgenommen und gedacht wird – wurden zu einer wertvollen Informationsquelle. Ziel war es, ein umfassenderes Verständnis für Frau Hugs Phänomen zu entwickeln, indem die Innenansicht des Erlebenden miteinbezogen wurde.

Nachspielen: Eine ungewöhnliche Annäherung

Wie bereits im ersten Blogeintrag erwähnt, ist das Nachspielen eine unkonventionelle Methode. Nach einer kurzen Einführung nahmen wir uns Zeit, Frau Hugs Situation selbst zu erfahren: mit wenig Bewegungsraum, in totaler Stille, mit gleichzeitiger Blindheit und dem monotonen Summen als Simulation des Schreiens. Diese direkte Erfahrung war entscheidend, um Empathie und ein tieferes Verständnis zu entwickeln.

Eine Hypothese bilden: Zuerst verstehen, dann verstanden werden

Gemeinsam sammelten wir alle Beschreibungen und Eindrücke, um eine Hypothese zu bilden: Warum könnte dieses Verhalten für Frau Hug im Moment sinnvoll und sogar lebensnotwendig sein? Im gemeinsamen Austausch entstand eine besondere Atmosphäre des Verständnisses. Nach und nach näherten wir uns einer Idee:

Frau Hug erzeugt mit ihrem Verhalten Informationen, mit denen sie sich spüren kann. Sie befindet sich dabei in einer nicht enden wollenden, gleichbleibenden Schleife.

Grundsätzlich ging es darum, Frau Hug so zu unterstützen, dass sie ihre Spannung vielfältiger und differenzierter entwickeln und wahrnehmen kann.

Konkrete Umsetzung: Das LQ-Modell und Forschungsfragen im Alltag

Aufbauend auf dem LQ-Modell konzentrierten wir uns auf den Aspekt des „Verbunden seins“. Wir spielten erneut die Interaktion nach, die ich bei meiner ersten Begegnung erlebt hatte. Auch das war ein ungewöhnlicher Ansatz, doch schnell entwickelte sich ein dynamisches und kreatives Spiel, das nach neuen Möglichkeiten suchte. Diese Forschungsfragen begleiteten uns:

Das 'LQ Modell' oder auch 'Integrales Lebensqualitätsmodell' ist ein von Richard Hennessey und Stefan Knobel entwickeltes Konzept zur Beschreibung und Förderung von Lebensqualität.

  • Wie passe ich fortlaufend meine Bewegungsgeschwindigkeit an die Möglichkeiten meines Gegenübers an?
  • Wie wirkt sich meine Anstrengung (Muskelan- und -entspannung) im Verlauf der Unterstützung auf die Anstrengung meines Gegenübers aus?

Diese Beobachtungsideen begleiteten das Team fortan in ihren Begegnungen mit Frau Hug. Wir formulierten konkrete Ziele und Massnahmen:

Ziel: Frau Hug so zu unterstützen, dass sie ihre Spannung vielfältig und differenziert entwickeln und wahrnehmen kann.

Massnahme 1: Alle alltäglichen Aktivitäten wurden genutzt, um diese Forschungsfragen anzuwenden:

  • Wie passe ich fortlaufend meine Bewegungsgeschwindigkeit an die Möglichkeiten von Frau Hug an?
  • Wie wirkt sich meine Anstrengung (Muskelan- und -entspannung) im Verlauf der Unterstützung auf die Anstrengung von Frau Hug aus?
  • Was kann ich in ganz alltäglichen Unterstützungssituationen von Frau Hug über mein „Führen-Folgen Verhalten“ feststellen?

Massnahme 2: Analyse der Umgebung für Frau Hug:

  • Wie wirken sich die jeweiligen Umgebungsveränderungen auf die Möglichkeiten von Frau Hug aus?

Wirkung und Entwicklung: Eine Situation wird erträglich

Diese Geschichte liegt Jahre zurück, Frau Hug ist längst verstorben. Doch was mich bis heute beeindruckt, ist die nachhaltige Wirkung unserer Arbeit:

Die veränderten Interaktionen mit Frau Hug und die Suche nach passenden Umgebungen haben die Situation so grundlegend verändert, dass sie für den gesamten Wohnbereich erträglich wurde. Das Pflegeteam war sich ihrer Interaktionen bewusst und entsprechend stolz auf die Fortschritte. Angehörige, Mitbewohnende, das Pflegeteam und die Institution waren dankbar, dass Frau Hug trotz ihrer vielfältigen Beeinträchtigungen wieder mehr Begegnungen zulassen konnte.

Diese Erfahrung zeigt, dass ein Perspektivenwechsel und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen positive Veränderungen bewirken können.

Erich Weidmann August 2025