Perspektiven für mehr Lebensqualität
Frau Clerc bittet mich um ein Gespräch. Sie ist die Ehefrau eines Bewohners unseres Wohnbereichs. Ich habe viele Gespräche erlebt, doch diese Begegnung berührt mich ganz besonders.
Vor dem Eintritt
Vor gut zwei Jahren wurde Frau Clerc informiert, dass ihr demenzbetroffener Ehemann, Herr Clerc, eine neue Wohnform benötigt, da er zunehmend immobil wird. Der Wohnbereichswechsel beinhaltete auch den Wechsel von einem Einzelzimmer in ein Zweibettzimmer. Für das Ehepaar Clerc war dies eine Herausforderung mit vielen Facetten und Fragen. Eine Frage war, wann und wer der Zimmerpartner sein würde und ob dies für Herrn Clerc gut wäre. Wir beruhigen Frau Clerc mit positiven Erfahrungen und Geschichten, die wir als Pflegende im Zusammenhang mit Mehrbettzimmern gemacht haben.
Eintritt – der ein Weg ist
Herr Clerc lebt sich, begleitet durch seine Ehefrau und das Team, im neuen Wohnbereich gut ein. Der zur Verfügung stehende Raum im Zweierzimmer wird so gut wie möglich eingerichtet. Mit dem neuen Zimmernachbarn und dessen Familie entwickelt sich eine wertvolle Beziehung, die auf den ganzen Wohnbereich ausstrahlt. Frau Clerc zeigt sich großzügig und verständnisvoll und ist bereit, mit uns zusammen immer wieder nach passenden Lösungen zu suchen. Alles verläuft so, wie wir es uns vorgestellt haben.
Die Fragen und Themen, die beschäftigen
Frau Clerc beschäftigt die Veränderung des Allgemeinzustands des Zimmernachbarn. Wie wird es sein, wenn es zu Ende geht? Sie stellt die Frage und wir antworten, wie es nicht anders zu beantworten ist: „Wir werden eine Lösung finden.“ Die Zeit verrinnt und Herr Schmidt, der Zimmernachbar, wird schwächer. Frau Clerc ist intensiv eingebunden und viel im Austausch mit den Angehörigen von Herrn Schmidt. Wir Pflegende sind dankbar für diese Beziehungen. Für uns ist es selbstverständlich, der Ehefrau von Herrn Schmidt ein Zusatzbett ins Zimmer zu stellen bei einer neuerlichen Krise. Frau Clerc fragt sich, was mit ihrem Mann ist. Wie nimmt er das auf? Was passiert, wenn Herr Schmidt stirbt? Wo wird er sein? Wo ihr Mann? Von einer Kollegin hat sie gehört, dass manchmal sogar das Badezimmer eine Option sei – eine grässliche Vorstellung!
Todesfall ist eben auch Geschichte
Herr Schmidt darf seinen Lebenskreis schließen, begleitet von Angehörigen und Pflegenden des Wohnbereichs. Herr Clerc verbringt die Nacht und den folgenden Tag in einer hergerichteten Ecke der Wohnstube. Für das Team ist dieses Vorgehen selbstverständlich, so können sich die Angehörigen in Ruhe im Zimmer des Verstorbenen verabschieden. Im Eingang des Wohnbereichs brennt eine Kerze für Herrn Schmidt. Frau Clerc kommt zu Besuch, wie üblich hat sie gestern etwas für sich unternommen. Sie sieht die brennende Kerze für Herrn Schmidt. Auch sie ist traurig und dankbar für die Erlösung. Die vielen Begegnungen mit ihm und seiner Familie fehlen auch ihr.
Zwiespalt
Frau Clerc hat auch andere Perspektiven und Fragen, die sie sehr beschäftigen. Warum wurde sie nicht sofort informiert? War ihr Mann in dieser Situation ganz auf sich selbst gestellt? Wo war er, als Herr Schmidt starb? Was hat er als Demenzbetroffener aufgenommen? Wie wird es sein, wenn ihr Ehemann am Ende seines Erdenweges ist?
Danke
Ich bin lange in der Pflege tätig und habe viele BewohnerInnen und Angehörige in solchen Situationen begleitet. Ich meine, wir haben oft gute Entscheidungen getroffen, aber die Perspektive der Betroffenheit von Angehörigen wie Frau Clerc wurde mir nie so deutlich vor Augen geführt.
Seit zwei Jahren haben wir uns von der Abteilung zum Wohnbereich umbenannt und gemeinsam mit Bewohnern, Angehörigen und Besuchern erkundet, was das bedeutet. Im Gespräch mit Frau Clerc wird mir klar: Wohnen und Leben ist ein stetiges, verantwortungsvolles Suchen. Dabei sind die Momente, in denen ich an meine Grenzen geführt werde und mit neuen Perspektiven beschenkt werde, besonders wichtig, da sie mir helfen, mich selbst weiterzuentwickeln. Ich bin überzeugt, dass mir diese Geschichte beim nächsten Todesfall helfen wird. Vielleicht entsteht daraus die echte Qualität, die untrennbar mit dem Leben verbunden ist.
Erich Weidmann
Dez 2024
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