«Wart schnell!» – Wenn Rehabilitation zu «habilitieren» wird
Können Sie sich vorstellen, dass Sie über eine Minute brauchen, um sich eine Socke anzuziehen? Können Sie sich vorstellen, dass diese scheinbar banale Handlung von unglaublicher Bedeutung für das Wohlbefinden und das Gefühl der Selbstwirksamkeit eines Menschen ist? Für Esther waren diese Fragen nie relevant…
Nach einem schweren Fahrradunfall mit multiplen Verletzungen stellte das Leben sie vor neue, unvorstellbare Herausforderungen. Eine schwere Hirnverletzung schränkte ihre rechte Körperhälfte massiv ein, das Sprechen war zunächst unmöglich und entwickelte sich nur sehr langsam. In der Rehabilitation entdeckte Esther eine innere Kraft, die ihr half, sich wieder mit ihrer Aufgabe zu Hause, in ihrem Betrieb, verbunden zu fühlen. Aus dem Begriff «Rehabilitation», der oft das Wiederherstellen des ursprünglichen Zustands beschreibt, wurde für sie ein fortlaufendes inneres «habilitieren» – «geschickt machen», «geeignet machen».
Zur Rehabilitation ins Pflegezentrum?
Einige Jahre nach diesem schweren Unfall begegnete ich Esther. Sie war zur Erholung nach einem Spitalaufenthalt in einem Pflegezentrum, in dem ich als Kinaesthetics-Trainer Praxisbegleitungen gestaltete. Ich weiss nicht mehr, was die Herausforderung für die Pflegenden war. Was die Herausforderung für Esther war, als sie mir begegnete, weiss ich noch sehr genau: Ich war zu schnell.
Nicht, dass ich es selbst gemerkt hätte. Es waren ihre Worte «wart schnell», in allen möglichen Variationen: liebliche, direkte, forsche, klare, gedehnte, zackige, dankbare Töne. Diese zwei Worte waren so bemerkenswert, weil es für Esther bis heute fast unmöglich ist, Wörter passend aneinanderzureihen. Der zeitliche Raum, den sie sich dadurch schuf, half ihr, die Aktivitäten selbst auszuführen und mir als Profi zu zeigen, dass auch Warten eine Kompetenz sein kann.
Inzwischen kenne ich Esther seit einigen Jahren. In jeder Begegnung fällt mir auf, wie wichtig ihr ihre Selbstwirksamkeit bis heute ist. Was in der Pflege oft als leere Worthülse wie «Autonomie» oder «Selbstwirksamkeit» daherkommt, fordert Esther bis heute mit ihrem «wart schnell!» ein.
Vom Boden aufstehen: Rehabilitation oder Habilitation?
Allein vom Boden aufzustehen, fordert Esther bis heute heraus. Vor einigen Jahren haben wir das Projekt «vom Boden aufstehen» gestartet. Dabei suchen wir immer wieder nach geschickten und geeigneten Teilschritten – ein echtes habilitieren. In der Bewegung mit Esther werde ich dabei stets gefordert! «Wart schnell!» in allen Variationen hilft mir und hilft Esther.
«Wart schnell!» – Ein Schlüssel in der Rehabilitation
Menschen entwickeln sich fortlaufend und immer basierend auf ihren Erfahrungen. Rehabilitation kann uns glauben machen, dass wir zu einem früheren Punkt zurückkehren könnten. Was nach schweren Verletzungen oder Krankheiten angestrebt wird, gelingt so gesehen jedoch nie vollständig. Der Begriff Habilitation ist in unserem Sprachgebrauch meist nur für Menschen gedacht, die eine Professur anstreben. Der Wortstamm ist jedoch auch sehr gut geeignet für das, was Esther mit ihrem «wart schnell!» getan hat.
Sie hat sich dadurch den Raum geschaffen, Dinge zu entwickeln und zu entdecken, wie sie mit ihren jetzigen Einschränkungen ihre alltäglichen Aktivitäten geschickt, passend und geeignet bewältigen kann. Ich kenne Esther inzwischen schon einige Jahre und kann immer wieder beobachten, wie ich selbst, aber auch ihr Umfeld, gefordert sind, zu akzeptieren, dass Esther ihre alltäglichen Aktivitäten so gestaltet, dass sie diese selbst und sicher tun kann.
Den Schlüssel dazu hat Esther behalten: «Wart schnell!»
Erich Weidmann Sept. 2025
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