Wenn der Rollstuhl zum Hilfsmittel wird!

Dieser Beitrag beleuchtet wichtige Überlegungen zum Einsatz von Rollstühlen bei Menschen mit eingeschränkter Mobilität, illustriert anhand des Fallbeispiels von Frau Hunn.

Wenn Rollstühle nicht helfen

Frau Hunn lebte seit einigen Jahren im Pflegeheim. Ein Hirninfarkt hatte sie schwer beeinträchtigt und zu einer starken Abhängigkeit geführt. Ihre Bewegungsfähigkeit war stark eingeschränkt, und sie konnte nur schwer mit ihrer Umwelt kommunizieren. Häufig war sie traurig und weinte. Tagsüber saß sie in einem für sie individuell angepassten Rollstuhl, ausgerüstet mit einer Sitzschale, einem von vorne aufschiebbaren Hemiplegie-Tisch, Kopfstütze und Fussstütze. Diese Umgebung sicherte Frau Hunn und blockierte sie gleichzeitig.

Frei Sitzen versus «gesitzt» sein

Nach einer Standortbestimmung entschieden wir uns, zusammen mit der Ergotherapeutin und Frau Hunn, den Weg vom Liegen ins Sitzen an der Bettkante zu suchen und danach das Einnehmen des Frühstücks in dieser Position zu unterstützen. Dies brauchte zu Beginn viel Analyse in Bezug auf das Sitzen und den Einbezug beim Essen selbst, dazu ein mutiges Dranbleiben. Schon bald zeigte uns Frau Hunn, dass sie sich im Sitzen immer besser zurechtfand und den Oberkörper steuern konnte.

Rollstuhl als Mittel einsetzten

So beschlossen wir mit ihr zusammen einen nächsten Schritt und entfernten den Hemiplegie-Tisch stundenweise, um Frau Hunn mehr Bewegungsfreiheit zu ermöglichen. Innert Kürze zeigte sie uns, dass sie in der Lage war, ohne diesen Tisch sicher zu sitzen.Im nächsten Schritt boten wir Frau Hunn einen anderen Rollstuhl an mit der Idee, dass sie ihre Ressourcen noch passender einsetzen konnte.

Frau Hunn machte schnell Fortschritte. Sie begann, ihre Hände unterschiedlich einzusetzen, zog sich damit von der Rückenlehne weg und begann, die Räder zu bewegen. Mit einem Fuss begann sie, sich vom Boden abzustoßen und kleine Vorwärtsschritte zu machen. Nach wenigen Tagen waren wir sicher, dass Frau Hunn ihren bisherigen Rollstuhl definitiv nicht mehr brauchte! Frau Hunn saß sicher und kontrolliert im jetzigen Rollstuhl. Wenige Wochen später lernte Frau Hunn, ihren Oberkörper auch bei Seitwärtsbewegungen zu kontrollieren. Die Seitenlehnen des Rollstuhls konnten entfernt werden.

Wenn Pflegende Mittel clever einsetzen

Heute fährt die Bewohnerin, in ihrem Rollstuhl, selbstständig alle Distanzen im Wohnbereich. Diese wiedergewonnene Bewegungsfähigkeit hat sich sehr positiv auf die Gesundheit von Frau Hunn ausgewirkt. Sie ist nun aktiver und nimmt am Geschehen auf der Pflegegruppe teil. Für die Angehörigen wirkt diese Entwicklung fast wie ein Wunder, und ehrlich gesagt für uns auch. Der Entscheid an der damaligen Standortbestimmung bedeutete jedoch einen ersten Schritt, gefolgt von vielen folgenden kleinen Schritten, die letztendlich unsere Arbeit waren!

Bemerkungen

Die Geschichte von Frau Hunn zeigt, dass eine standardisierte Rollstuhlversorgung oft nicht optimal ist. Eine individuelle und immer wieder überprüfte Anpassung, die die spezifischen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Nutzers berücksichtigt, ist entscheidend.

Hemiplegie-Tische, Armlehnen und Fußstützen an Rollstühlen sind manchmal dann hilfreich, wenn sie entfernt werden! Manchmal über gewisse Zeitfenster. Dies ermöglicht die Entwicklung und oft die differenzierte Steuerung der Bewegung in kleinen Schritten.

Entwicklung im Vordergrund

Rollstuhl ist ein Mittel, ob es hilft entscheiden die Menschen

Rollstuhl ist ein Mittel, ob es hilft entscheiden die Menschen

Frau Hunn war schon über zwei Jahre in diesem Rollstuhl, der auf reines Sicherheitsdenken ausgerichtet war. Das Entfernen des Hemiplegie-Tisches geschah im Rahmen von gemeinsamem Forschen mit einem Lern- und Entwicklungsparadigma. Der erste Schritt war, die Bewegungsressourcen von Frau Hunn zu erkennen und ihr diese zuzusprechen. Dies hat uns gefordert, Entwicklung und Sicherheit ins Spiel zu bringen. Die Perspektive ermöglichte ihr, ihre Oberkörperkontrolle wiederzuerlangen und letztendlich ihren Rollstuhl selbstständig zu bewegen.

Rollstühle sollten so eingestellt sein, dass sie die Selbstständigkeit des Nutzers fördern, anstatt ihn in seiner Bewegung einzuschränken.

Berücksichtigung der Körperwahrnehmung:
Zu kleine Fußstützen können dazu führen, dass der Nutzer sich nicht „geerdet“ fühlt, was die Bewegungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Fusschemmel oder Blöcke können da hilfreich sein.Eine optimale Gewichtsabgabe über die Füße ist wichtig für Körperwahrnehmung, Gleichgewicht und die Organisation des Gewichts.

Auswirkungen auf die Lebensqualität:

Die wiedergewonnene Mobilität von Frau Hunn hat eine positive Auswirkung auf ihre Gesundheit und ihre Teilnahme am sozialen Leben.

Rollstühle sollten nicht nur als Hilfsmittel zur Fortbewegung, sondern auch als Mittel zur Förderung der Lebensqualität in vielen anderen Alltagsaktivitäten betrachtet werden.

Wichtige Überlegungen bei der Rollstuhlanpassung:

  • Hemiplegie-Tische:
    • Boten Sicherheit, haben aber Vor- und Rückwärtsbewegungen einschränkt.
    • Erschwerten das Erlernen der Oberkörperkontrolle.
  • Armlehnen:
    • Haben das Erlernen der Oberkörperkontrolle seitwärts erschwert.
    • Erschwerten den Zugang zu den Rädern.
    • Zu hoch eingestellte Armlehnen erschweren die Bewegung im Schultergürtel.
  • Fußstützen:
    • Zu kleine Fußstützen können die Bewegungsfähigkeit einschränken.
    • bieten keine Alternativen zum Aufstellen der Füße.
    • Die Menschen sind nicht „geerdet“.

Zusammenfassend:

Die Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, Rollstühle individuell anzupassen, dass die Gesundheitsentwicklung im Vordergrund steht und so die Selbstständigkeit der Nutzer zu unterstützen. Frau Hunn saß zwei Jahre täglich ca. 7 Stunden im Rollstuhl! Der Paradigmenwechsel auf unserer Seite hatte aus diesem «Rollstuhl» einen Essstuhl, einen Ruhestuhl, einen Beschäftigungsstuhl, einen Lebensstuhl werden lassen. Die Bereitschaft unsererseits, die Pflegesituation zu analysieren, war ausschlaggebend, die Entwicklung zu erleben.

Erich Weidmann

Mai 2025

Beispiele für Leitende Forschungsfragen

Für das Beobachten Ihrer eigenen Bewegung in verschieden “Rollstühlen”können Ihnen folgende Fragen helfen:
Welche Unterscheide an Druck- und Spannungsveränderungen bemerke ich in unterschiedlichen Rollstühlen?
Welche Unterschiede kann ich in den unterschiedlichen Rollstühlen im gestalten von Zeit (Geschwindigkeitsveränderung), innerem Raum (Richtungen) und Anstrengung (viel/wenig Kraft) wahrnehmen?
Was kann ich im Zusammenspiel von Massen und Zwischenräumen bemerken?
Wie kann ich meine Beine organisieren? Meine Arme?
Was kann ich im Bezug auf die Gewichtsabgabe erfahren, beschreiben?
Welche Unterschiede kann ich in meiner Bewegung bemerken, wenn ich die Perspektive “Vielfalt” wähle?
Welche qualitativen Unterschiede in meiner Anstrengung kann ich wahrnehmen, wenn ich Ziehen und Drücken verändere?
Kann ich die die drei Elemente eines Schrittes bei Gewichtsverlagerungen in meiner Bewegung beobachten?

1. Gewicht im Körper verlagern/2. entlastete Teile bewegen/3. Gewicht ausgleichen

Was merke ich in meiner Bewegung

  • wenn die Sitzfläche des Rollstuhls nach hinten neigt, / die Rückenlehne nach hinten neigt
  • die Seitenteile montiert, demontiert sind
  • die Fussstützen dran/ weg sind
  • Die Stützen gekippt/ gerade sind
  • Die Füsse auf dem Boden stehen, auf einem Schemmel stehen

Beispiele für Ziele/Grundlegende Kompetenzen

Frau Hunn kann im angepassten Rollstuhl, ihr Gewicht Schritt für Schritt wieder so steuern, dass ihre Bewegungen in Zeit, Raum und Anstrengung differenziert und vielfältig zur Aktivität passen.

Spannungs- und Druckveränderungen differenziert wahrnehmen

Das Zusammenspiel von Zeit, Raum und Anstrengung differenziert und vielfältig gestalten – –
Das Tempo differenziert erhöhen, verlangsamen
Die inneren Spielräume differenziert und vielfältig nutzen/beteiligen
Das Gewicht differenziert und vielfältig über die Knochen organisieren
mit Hilfe der Arme das Gewicht des Brustkorbes differenziert und vielfältig organisieren
Das Gewicht des Brustkorbes differenziert und vielfältig über die Armknochen organisieren
Das Gewicht des Beckens differenziert und vielfältig über die Beinknochen organisieren
Mit Hilfe der Beine das Gewicht des Beckens differenziert und vielfältig organisieren
Führen und Folgen zwischen den Massen differenziert und vielfältig gestalten
Den Spielraum der Zwischenräume differenziert und vielfältig nutzen
Die Richtung der Gewichtsverlagerung zwischen den Massen und über die Knochenstruktur differenziert und vielfältig gestalten