Ist Zertifizierung ein Spiel?

Als jemand, der in seiner beruflichen Laufbahn mit verschiedensten Zertifizierungen zu tun hatte – sei es nach ISO 9001, dem EFQM-Modell, als Nichtraucherorganisation oder für Kinaesthetics – habe ich immer wieder dasselbe beobachtet: Wertvolle Arbeitszeit wird investiert, um sich auf den großen Tag der Überprüfung vorzubereiten. Es wird ein Programm erstellt, die “besten” Mitarbeitenden werden ausgewählt und alles wird so geplant, dass der Betrieb oder das Programm auch bei nicht geplanten Ausfällen reibungslos weiterläuft.

An der Auditierung läuft dann alles nach Plan. Man gibt sich die größte Mühe, den Vorgaben der Prüfstelle gerecht zu werden und natürlich das bestmögliche Bild abzugeben. Doch die Anwesenheit der Auditoren ist für alle offensichtlich. Jeder spürt das Besondere und gibt sein Bestes. Am Ende erhält man für viel Geld ein Feedback, das Schwachstellen aufzeigt oder Potenziale entdeckt. Es ist ein sensibles Geben und Nehmen, denn man will ja das Zertifikat bekommen und die Prüfer wollen ihre Kunden nicht verlieren.

Eine Zertifizierung aus dem echten Leben

Heute Morgen habe ich eine ältere Dame bei einer Praxisbegleitung getroffen. Sie begleitete ihren Mann und wir kamen ins Gespräch. Sie erzählte mir, dass sie als Besucherin in der Lage ist, die Kompetenzunterschiede der Mitarbeitenden sehr genau wahrzunehmen. Ich war erstaunt, wie differenziert sie das beschreiben konnte. Sie erstellt ihre eigenen “Zertifikate”.

Diese “Zertifikate” der Besucherin haben einen unschlagbaren Vorteil gegenüber denen einer Auditierungsinstitution: Sie beinhalten einen Gesamtüberblick über alle Mitarbeitenden und über einen längeren Zeitraum. Sie berücksichtigen Tage, an denen ein Norovirus wütete, an denen es massive Personalausfälle gab und an denen einfach nicht alles perfekt lief. Sie zeigen die Realität, mit all ihren Höhen und Tiefen.

Echte Kompetenz statt Inszenierung

Wäre es nicht sinnvoller, wenn Institutionen sich weigern würden, dieses “Veranstaltungsspiel” mit den Zertifizierungen zu spielen? Stattdessen könnten sie Beobachtungen und Feedbacks annehmen, die aus dem wirklichen Leben der Institution stammen – mit allen Aufs und Abs.

Stellen Sie sich vor, man würde schonungslos zeigen, was Mitarbeitende jeden Tag leisten, oft unter schwierigsten Bedingungen. Man wäre bereit, aus den Rückmeldungen und Beobachtungen, die aus dem Alltag kommen, zu lernen und zu profitieren. So könnten die Zertifizierungsstellen die echten Kompetenzen wahrnehmen und mit der Zeit vielleicht ein realistischeres Bild erstellen.

Hand aufs Herz: Jeder Besucher und jeder Vorgesetzte weiß, dass Herausforderungen wie Personalausfälle oder komplexe Krankheitsfälle im Alltag ganz unterschiedlich gehandhabt werden. Die Fähigkeit, erfolgreich mit diesen Situationen umzugehen, liegt in den Handlungen und Verhaltensweisen der Mitarbeitenden.

Es ist entscheidend, diese Muster zu erkennen und die Frage zu stellen: Welche Rolle spielen dabei die Grundlagen, die in Dokumenten und Schulungen festgelegt sind? Dies könnte uns helfen, einen Weg zu finden, der echten Wert schafft, anstatt nur ein vorgetäuschtes Spiel zu spielen.

Erich Weidmann Oktober 2025